Lomonossow und seine Bedeutung für die russische Schriftsprache und Literatur

Lomonossow und seine Bedeutung für die russische Schriftsprache und Literatur
Lomonossow und seine Bedeutung für die russische Schriftsprache und Literatur
 
Russland war durch die Reformen Peters des Großen im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts so nachhaltig verändert worden, dass es Jahrzehnte benötigte, um den Kulturschock zu bewältigen. Die Neuerungen, die sich auf alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens erstreckten, wirkten sich nicht zuletzt auch auf die Sprache aus. Bald zeigte sich, dass die überkommene Sprachverwendung den neuen Anforderungen nicht gewachsen war. Ganze Sachbereiche waren terminologisch neu zu besetzen mit der Folge, dass in die überkommenen Sprachstränge - Kanzleisprache, Kirchenslawisch und das im Volk gesprochene Idiom - in großer Zahl Fremdwörter und neue Lehnübersetzungen (Calques) eindrangen. Mit Recht hat man die sprachliche Situation unter Peter als »Anarchie« oder »Interregnum« bezeichnet.
 
Die literarischen Zeugnisse aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts leiden ausnahmslos an sprachlicher Unzulänglichkeit. Das gilt auch für die Werke der gebildeten und sprachkritischen Autoren Antioch Kantemir und Wassilij Trediakowskij. Letzterer legte zwar ein Programm vor, das die Erstellung eines Normengebäudes der russischen Sprache, bestehend aus Grammatik, Wörterbuch, Rhetorik und Metrik, vorsah. Er selbst hat davon aber nur den metrisch-poetologischen Teil mit seiner »Neuen und kurzen Anleitung zum Verfassen russischer Verse« (1735) verwirklicht, und auch hierbei ist er über Halbheiten nicht hinausgekommen. Es blieb Michail Wassiljewitsch Lomonossow vorbehalten, diese Mängel zu beheben und endlich das von Trediakowskij skizzierte Konzept der russischen Literatursprache zu verwirklichen - bis auf das russische Wörterbuch, das zu erarbeiten erst der 1783 nach französischem Vorbild gegründeten »Russischen Akademie« gelang.
 
Lomonossow war Professor für Chemie an der Petersburger Akademie und Physiker, Historiker und Philologe, Fabrikant und Wissenschaftsorganisator - nach seinen Plänen wurde 1755 die Moskauer Universität gegründet. Unter seinen vielfältigen Unternehmungen war jedoch seine Sprachreform für die kulturelle Entwicklung Russlands am folgenreichsten. Es galt einmal, das in Russland vorfindliche Sprachmaterial, nämlich Kirchenslawisch, die alte Kultsprache der Slavia orthodoxa, also eine südslawische Sprache, und das eigentliche Russisch, also ein ostslawisches Idiom, in ein einheitliches Sprachmodell zu integrieren. Zum anderen musste die Literatursprache, um den neuen sozialen und kulturellen Anforderungen der europäisierten Literatur zu genügen, einer Stilhierarchie unterworfen werden.
 
Lomonossows erster Schritt, die Reform der russischen Verslehre, geschah in unmittelbarer Reaktion auf Trediakowskijs »Neue und kurze Anleitung«. In Anlehnung an die deutsche Verstheorie legte er in seinem »Brief über die Regeln der russischen Versifikation« (1739) die Grundregeln der russischen Metrik fest, die er aus den sprachlichen Gegebenheiten des Russischen entwickelte. Damit wurde das silbenzählende Prinzip endgültig abgelöst und das syllabotonische (silbenzählend-wägende) Verssystem mit einem breiten Repertoire an Metren sowie der Gebrauch männlicher, weiblicher und daktylischer Reime für die russische Versdichtung bereit gestellt.
 
Der zweite Schritt, die Erstellung eines Rhetorikhandbuches, beschäftigte Lomonossow in den Vierzigerjahren. Zwar bestand in Russland seit dem 17. Jahrhundert eine barocke kirchenslawische Rhetoriktradition, diese wurde aber den Anforderungen an ein weltliches Schrifttum in der elisabethanischen Zeit nicht mehr gerecht. Lomonossows Handbuch, »Kurze Anleitung zur Redekunst« (1748) vermittelt nicht nur rhetorische Techniken und Begriffe, sondern stellt durch die große Zahl der Textbeispiele auch den universalen Ausdrucksradius der russischen Sprache unter Beweis. Der Einfluss dieser Beispiele auf die folgenden Dichtergenerationen kann nicht hoch genug veranschlagt werden.
 
Lomonossows »Russische Grammatik« (1755) bildet die dritte Säule seines Sprachgebäudes. Auf der Basis des Moskauer Dialektes erörtert sie Phonetik, Nominal- und Verbalflexion und legt diese normativ fest. Seine empirischen phonetischen Befunde waren sprachgeschichtlich von großer Wichtigkeit. Da öfter die besondere Aussprache oder Schriftform volkssprachlicher Wörter herausgestellt wurde, deutete Lomonossow hier bereits stilistische Differenzierungen an.
 
Der erstaunliche Ausdrucksreichtum der russischen Literatursprache beruht auf der Verschmelzung des Kirchenslawischen und der russischen Volkssprache zu einem einheitlichen Sprachkörper. Es war Lomonossow, der das linguistisch verschiedenartige Material zusammenschloss und stilistisch funktionalisierte. Im Vorwort »Über den Nutzen der kirchlichen Bücher in der russischen Sprache«, das er der zweibändigen Ausgabe seiner Gesammelten Werke (1757) voranstellte, trug Lomonossow seine Stillehre vor. Als Basis für die Differenzierung des verfügbaren Wortschatzes dienten ihm die in kirchlicher kyrillischer Schrift (Kyrilliza) verbreiteten Bücher, da deren Wortschatz eindeutig als kirchenslawisch zu qualifizieren war. Auf der anderen Seite stand das Wortmaterial der im Volk gesprochenen Umgangssprache, das als russisch gelten konnte. In einem Überlappungsbereich gab es eine große Zahl gemeinslawischer Wörter, die sowohl im Russischen als auch im Kirchenslawischen vorzufinden waren. Die drei Wortgruppen teilte Lomonossow den Stilebenen in der Weise zu, dass sich der hohe Stil aus gemein- und kirchenslawischen Wörtern, der mittlere Stil aus kirchenslawischen und russischen, der niedrige Stil aus russischen Wörtern speiste. Den Stilen waren Themenbereiche und Gattungen im Sinne der traditionellen Ständeklausel zugeordnet.
 
Lomonossow hatte mit seiner Reform den Gebrauch der russischen Sprache für alle gängigen Stile und Gattungen normativ festgelegt. In der eigenen dichterischen Praxis aber widmete er sich vorwiegend den hohen Gattungen. Er schrieb feierliche Oden auf dynastische Anlässe, klassizistische Tragödien, ein Peter-Epos, Texte für Illuminationen (Festbeleuchtungen), Inschriften für Denkmäler sowie Prunkreden. Das klassizistische Gattungsspektrum wurde in seiner ganzen Breite in den Jahren 1747 bis 1759 erst von Aleksandr Sumarokow erprobt, der die literarischen Bedürfnisse des europäisierten Adels bediente. Der von Lomonossow geprägte Stil der hohen Ode hielt sich in dieser Gattung fast unverändert bis in die Puschkin-Zeit. Der niedrige Stil, der thematisch mit dem Leben des einfachen Volkes verbunden war, ließ sich vor allem in Komödie und Fabel verwenden. Gleichwohl wurde der mittlere Stil, der von Lomonossow am wenigsten genau definiert worden war, zum wichtigsten Strang der weiteren Sprach- und Literaturentwicklung. Die sentimentalistische Gefühlskultur und die eleganten Sitten in den Adelssalons fanden in den Neunzigerjahren Ausdruck in Nikolaj Karamsins »neuem Stil«, der den mittleren Stil weiter entwickelte. Erst durch den großen Fabeldichter Iwan Krylow, den Komödiendichter Aleksandr Gribojedow und vor allem durch Aleksandr Puschkin wurde das Lomonossowsche Stilsystem von seinem Schematismus befreit, seine neu gewonnene Flexibilität kam dem künstlerischen Ausdruck zugute. Das von Lomonossow erarbeitete sprachliche Fundament blieb aber der russischen Literatursprache erhalten. Lomonossows Tat besitzt, weit über den philologischen oder literarischen Rahmen hinaus, allgemeinkulturelle Bedeutung. Puschkin hat es 1825 so ausgedrückt: Lomonossow »hat die wahre Quelle der russischen Sprache und ihrer Schönheit begriffen - das ist sein Hauptverdienst.«
 
Prof. Dr. Reinhard Lauer
 
 
Stender-Petersen, Adolf: Geschichte der russischen Literatur. Aus dem Dänischen. München 51993.
 Tschižewskij, Dmitrij: Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 2 Bände. München 1964—67. Band 1 Nachdruck München 1977.

Universal-Lexikon. 2012.

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